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Deckblatt der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums von 1883 auf Französisch

Das Fundament der nationalen Volkswirtschaften – europäische wirtschaftliche Integration von 1870 bis 1914

Die europäische Integration wird gemeinhin als ein Phänomen verstanden, das während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Gesicht des Kontinents formte, indem es nach zwei verheerenden Weltkriegen „nationalem Egoismus“ entgegenwirkte und einen verlässlichen Rahmen europäischer Kooperation und auch Sicherheit schuf. Die Epoche vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird dabei als Epoche erinnert, der vom Aufstieg der Nationalstaaten zu einer zunehmenden europäischen Verfeindung führte, die 1914 im Ersten Weltkrieg kulminierte. Europäische Kooperation und nationalstaatliche Souveränität sind in dieser Darstellung Gegensätze, welche es zu überwinden gilt. Diese Perspektive wurde während der letzten Jahre von historiographischer Seite mehrfach hinterfragt, und es bestand unter Historikern zumindest dahingehend Konsens, dass sich die Anfänge europäischer Integration bereits im 19. Jahrhundert verorten lassen. Das Habilitationsprojekt  von PD Dr. habil. Yaman Kouli aus dem Institut für Geschichtswissenschaften, Abteilung Neuere Geschichte, steht in der Tradition dieser Forschung, ging mit Blick auf die Sozial- und Patentpolitik aber intensiver der Frage nach, in welchem Verhältnis internationale Kooperation und nationale Gesetzgebung tatsächlich stehen.

Um ein zentrales Ergebnis vorwegzunehmen: Der Antagonismus nationalstaatlicher Souveränität und europäischer Koordination hat in dieser Form nie existiert. Die These der sich verschlechternden politischen Kooperation, die von einer zunehmenden Konfrontation der Nationalstaaten begleitet wurde und beinahe zwangsweise in den Ersten Weltkrieg führte, wird daher inzwischen nicht mehr in dieser Absolutheit vertreten. Vielmehr sind Stimmen laut geworden, die den Kriegsausbruch angesichts der fortschreitenden Internationalisierungsimpulse gerade im Jahr 1914 als nicht in die Zeit passend darstellen. Es besteht inzwischen kein Zweifel mehr daran, dass das internationale Kooperationsniveau sehr hoch war. Dieser Befund betrifft die institutionalisierte oder gouvernementale Ebene – Cobden-Chevalier-Vertrag (1860), Weltpostverein (1874), Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (1883), Arbeiterschutzkonvention (1906) – ebenso wie die nicht-institutionalisierte Ebene der Märkte (europa- und weltweit vernetzter Arbeitsmarkt, Weltausstellungen, Goldstandard als stabilste und wichtigste Weltwährung, europäischer Kommunikationsraum).

Europäische Integration avant la lettre

Die Epoche vor 1914 kannte zwar kein mehrere Staaten übergreifendes Gebilde, das – vergleichbar mit der Europäischen Union – dem Zweck diente, die nationalen Politiken zu koordinieren. Die Annahme eines Kollektivs europäischer Staaten, das in Verfolgung einer gemeinsamen Vision ein einheitliches Konzept realisiert, lässt sich schon für die Gegenwart oft nur mit großer Mühe identifizieren. Trotzdem näherten sich die europäischen Sozialpolitiken an. Bis 1914 hatten praktisch alle europäischen Staaten Absicherungen gegen Krankheit, Alter, Invalidität und Unfälle eingeführt, und auch der Arbeiterschutz (Nachtarbeitsverbot für Frauen, Schutz von Minderjährigen) war in allen Staaten verbreitet. Dies geschah nicht aufgrund eines expliziten Konsenses zugunsten eines „Sozialen Europa“. Die Annäherung kam aufgrund eines Gefangenendilemmas zustande: Es gab zahlreiche Anreize für die Staaten, den Arbeiterschutz zu erhöhen, unter anderem durch den Druck der Arbeiterbewegung. Gleichzeitig war jede neue Sozialversicherung und jede Arbeiterschutzmaßnahme – das zeigen die Debatten ganz deutlich – Grund zu Besorgnis, würden sie doch die Arbeitskosten erhöhen, mit Folgen für die eigene internationale Konkurrenzfähigkeit. Das Ergebnis waren nationale Sozialpolitiken, die sich immer eng an den Nachbarstaaten orientierten und somit sicherstellten, dass sich der Leistungsumfang nicht allzu sehr von denen der Konkurrenz entfernte. Paradoxerweise war es also die Konkurrenz, die zu einer Verzahnung führte.

Bei den Patenten war die Lage etwas anders. Dort kam es 1883 zur sogenannten Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums, einem internationalen Abkommen, in dem sich die Unterzeichnerstaaten verpflichteten, Ausländer nicht mehr zu diskriminieren und den eigenen Patentmarkt für andere Patentanmelder aus Unterzeichnerstaaten zu öffnen. Die Handelsverflechtung machte es attraktiv, sich selbst an die Regel zu halten, wollte man doch ebenfalls, dass eigene nationale Patente in anderen Staaten respektiert werden. Die zunehmende internationale Handelsverflechtung trug dazu bei, dass der Anteil der ausländischen Patentinhaber zwischen den 1880er Jahren und 1914 hoch war (z.B. Frankreich: etwa 40 %, Italien: über 60 %).

Gegensatz von Nationalstaat und europäischer Integration: ein Missverständnis?

Weder bei der Sozial- noch bei der Patentepolitik kam es zu einer expliziten Angleichung der Gesetze, die nationalen Regelungen spielten weiterhin eine wichtige Rolle. Sowohl die großen Staaten (Frankreich, Großbritannien, Deutschland) als auch die kleineren (Luxemburg, Belgien) nahmen immer sehr genau zur Kenntnis, welche Gesetze und Maßnahmen in den übrigen „zivilisierten“ Staaten umgesetzt wurden. Auf Wunsch stellten nationale Verwaltungen auch Gesetzesentwürfe, Statistiken, Modellrechnungen etc. zur Verfügung. Diese Erkenntnisse wurden bei den nationalen Gesetzen zwar berücksichtigt. Die Regularien wurden jedoch nicht kopiert, vielmehr wurde weiter auf die Eigenständigkeit großen Wert gelegt.

Zwei Erkenntnisse sind mithin essentiell: Ende des 19. Jahrhunderts führte (erstens) die wirtschaftliche Konkurrenz nicht zu einem sozialpolitischen Unterbietungswettbewerb zwecks Erhaltung der eigenen Marktanteile. Sie begünstigte vielmehr das Entstehen der Vorstufe eines sozialen Europa, der auf dem impliziten Konsens beruhte, industrialisierte Staaten benötigen ein Mindestmaß an Arbeiterschutzmaßnahmen und Sozialversicherungen. Ähnlich galt das für die Patente, wo die Abhängigkeit vom internationalen Handel ein entscheidender Anreiz dafür war, Patentgesetze einzuführen, die auch den Interessen von Importeuren Rechnung trugen. Die zweite Erkenntnis ist, dass sich die oft unterstellte chronologische Konsekutivität von regionaler Regelung, nationaler Einigung und europäischer Integration sachlich nicht halten lässt. Von Beginn an wurden nationale Gesetze vor dem Hintergrund internationalen Wettbewerbs und länderübergreifender Handelsverflechtungen ausgehandelt. Der europäische Nationalstaat, der ignoriert, was jenseits der Grenze geschieht und stur auf seiner Souveränität beharrend seine Gesetze allein auf nationale Erkenntnisse stützt, hat es in dieser Form nie gegeben.


Bildquellen:

1 Header und Bild 1 im Text: Convention pour la protection de la propriété industrielle conclue à Paris, le 20 mars 1883, entre la Belgique, le Brésil, l'Espagne, la France, le Guatemala, l'Italie, les Pays-Bas, le Portugal, le Salvador, la Serbie et la Suisse / Ministère des affaires étrangères. Paris: Impr. nationale, 1883. Header: Bildausschnitt. Bild 1: Unveränderte Darstellung. Quelle und Originalbild: BnF Catalogue générale.

2Bild 2 im Text: Eisenbahnen- und Telegraphendichte der Erde um 1900. Unveränderte Darstellung. Quelle: Herausgegeben von Albert Scobel - Andrees Handatlas, 4. Auflage; als gemeinfrei gekennzeichnet siehe Wikimedia Commons. Originalbild via Wikimedia.


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